Geschichte Kratzinka

von Sigrid Mundt

Kratzinka, die Katze, wohnt in der Ulmenhofsiedlung, die früher Eyhof-Siedlung hieß.

Bei Tag besehen, ist Kratzinka die hübscheste Katze weit und breit: brötchenfarbenes Fellchen, schneeweiße Pfötchen, große wunderschöne blaue Augen und Öhrchen, die aufmerksam lauschen können. Mit ihren Schnurrhaaren kann sie tasten, ob sie durch eine Enge passt.

Kratzinka schläft gern und viel bei Tag. Wenn es aber zum Abend geht, wird sie munter; sie ist ein nachtaktives Tier. „Ich geh dann mal los“, so denkt sie und macht sich auf den Weg in die Dunkelheit.“ Vielleicht treffe ich Maumaumauro, den schwarzen Kater.“ Kratzinka schießt wie ein geölter Blitz vorbei am Uhlenkrug-Stadion und flitzt, ohne zu gucken, über die Wittenbergstraße; aber auch bei Nacht könnte noch ein Auto unterwegs sein! Kratzinka hat Glück gehabt und erreicht ihr Ziel:

Zum Schillerbrunnen wollte sie.

Still ist es nun geworden. Kein Mensch ist mehr auf der Straße. Die Sterne funkeln am nachtdunklen Himmel. „Vielleicht“ – so denkt sie – „habe ich auch Jagdglück und erwische ein schönes, fettes Mäuschen.“ Nun, Kratzinka ist halt ein kleines Raubtier.

Einsam liegt nun der Schillerbrunnen vor ihr. Sie spitzt ihre Öhrchen, lauscht in die Dunkelheit, in die Stille, aber außer einem schläfrigen kleinen Vogellaut ist nichts zu hören. Auch nichts zu sehen. Auch Maumaumauro ist nicht da, wie sie erhofft hatte. Wirklich niemand da?

Aber doch! Rotschwanz-Franz und seine Freundin, deren Namen wir noch immer nicht kennen, turnen um den Brunnen herum. Als sie Kratzinka sehen, verschwinden sie im Geäst der Bäume. „He, he, he, die krieg ich doch!?“

Kratzinka kratzklettert den Baumstamm ein Stückchen hoch, aber die beiden flinken Eichhörnchen sind schon längst verschwunden. „Ist das aber doof heute“, maunzt sie und läuft auf leisen Pfoten in Richtung Stadtwaldplatz. Ganz entfernt hört sie ein Käuzchen rufen. Noch weiter entfernt antwortet ein zweites Käuzchen aus dem Stadtwald.

Plötzlich steigt der volle Mond hinter den Bäumen, hinter den Häusern empor. Er spiegelt sich in den Fensterscheiben der KITA „Rübezahl“, an der Kratzinka gerade vorbeihuscht.“ Mond, Mond, nicht so hell, nicht so hell! So erwische ich doch kein einziges Mäuschen; die sehen mich doch auf zehn Meilen Entfernung!“

Der Mond lächelt still. Eine kleine Wolke schiebt sich vor ihn, und für einen Moment wird es dunkler. „Na, bitte! Geht doch!“, maunzt Kratzinka zufrieden; aber bald zieht das Wölkchen weiter und es wird wieder hell, mondhell.

„Mond, pass mal auf, was ich alles kann!“, und Kratzinka springt mit einem Riesensatz auf eine hohe Mauer, mit einem weitausholenden Sprung wieder nach unten und kommt federnd auf dem Boden auf. „So toll ist das nun auch nicht!“, lächelt der Mond, „hab schon besseres gesehen!“

„Aber jetzt, jetzt pass auf! Ich mach dir mal vor, wie ich mich anpirsche!“ Und Kratzinka macht sich so flach, dass ihr Bäuchlein auf dem Boden aufliegt. Langsam, ganz langsam und leise robbt sie sich ein Stückchen der Frankenstraße entlang. „Na und?“, lacht der freundliche Mond. „Warum machst du das denn? Ist ja doch kein Mäuschen in Sicht!“

„Doch nun!“ Schwanzfangen lässt Kratzinka zu einem lebenden Kreisel werden.

„Huch, Mond, ich sehe dich ja zweimal! Ganz schwindlig ist mir!“ „Aber jetzt! Guck doch mal, wie ich flitzen kann!“ Im Zickzacksprint wechselt sie die Straßenseiten von links nach rechts, von rechts nach links. Still und einsam ist es, so richtig schön zum Flitzen.

Einsam? Kratzinka verharrt im Sprung. Wer kommt da? Auf der mondbeschienenen Straße steht plötzlich eine Figur! Mitten auf der Fahrbahn! Etwas größer als Kratzinka. Kratzinka macht einen Buckel. Es ist ein Hund. Ist es Waldi? Nein, es ist ein fremder, struppiger, schwarzbrauner Hund. „Was machst du hier?“, faucht Kratzinka. „Das kann ich dich auch fragen!“, bellt der Hund zurück. Er fletscht die Zähne. Langsam gehen die beiden aufeinander zu. Das sieht nicht gut aus, erinnert an die alte Feindschaft zwischen Hund und Katze. „Du Straßenbürste, du Knochenbeißer, Hosenreißer, du, du …“ Dem Hund sträuben sich die Rückenhaare: „Du nichtsnutziges Fellknäuel, du Sofazerkratzer, du, du…“ Mehr Frechheiten fallen beiden im Moment nicht ein. Aber da der Hund schon etwas älter ist, denkt er vernünftig:“ Was soll ich mich aufregen? Ich mag ihre Mäuse nicht, sie nicht meine Kauknochen!“ Er trottet weiter.

Zufrieden ist jetzt auch der Mond und lächelt. Erleichtert ist Kratzinka. Aber sie hat keine Lust mehr, dem Mond etwas vorzumachen. Zu Maumaumauro möchte sie, schaut in alle Ecken, auf die Dächer, in jede Toreinfahrt, an der sie vorbeikommt, schaut auch mal – ganz nah am Boden – unter Sträucher, aber vergeblich: ihr Freund ist hier nicht. Der Weg, den Kratzinka schon hinter sich hat, war weit.

Müde und erschöpft ist Kratzinka bald, schleicht auf weichen Pfoten langsam weiter, weißes Pfötchen vor weißes Pfötchen. Sie wollte doch so gern zum Blücherturm. Dort, so ahnt sie, könnte man Maumaumauro vielleicht auch finden, denn wie alle Katzentiere, stromert auch er gerne des Nachts herum. Mal hier, mal da, mal dort. Besonders gern ist Maumaumauro aber am Blücherturm.

Mondbeschienen liegt die Frankenstraße vor Kratzinka. „Mond, du siehst so freundlich aus. Scheinst du vielleicht nur für mich?“ Da lacht der alte Vollmond übers ganze Gesicht: „Dummerchen, ich bin heute in meiner Mondnacht überall und für alle da. Ich liege über Rellinghausen, über Stadtwald, ich überglänze das wunderschöne Schloss Schellenberg, freue mich über alle schönen und interessanten Bauwerke, deren es hier viele gibt, freue mich über Kulturdenkmäler und über Naturdenkmäler, über die großen Waldflächen und Gärten und lege mein sanftes Licht über all das. Ich leuchte gerne auch in die Schlafräume von Kindern und bringe ihnen süße Träume. Ich schenke mein Licht den Liebespaaren und den Dichtern. Ich wandere auch zum Jagdhaus Schellenberg und lasse dort mein Licht auf dem tief untenliegenden Baldeneysee glitzern und ich begleite kleine Katzen, wie dich, zum Blücherturm, damit du deinen Freund finden kannst.“ Mitleidig – weil er sieht, dass Kratzinka es nicht mehr in dieser Nacht bis zum Blücherturm schaffen kann – hüllt er sie in einen Traum. Als Kratzinka erwacht, es ist noch immer Nacht, ist sie am Blücherturm gelandet.

„Maumaumauroo! Mauuuu! Miauu!“ Da erscheint oben auf dem Dachfirst des Blücherturmes ein schwarzer Kater. Hell vom Mond beschienen, hebt er sich vom nachtblauen Himmel ab. Ganz still steht er da. „Mond, ist er nun ein Kulturdenkmal oder ein Naturdenkmal?“ Der Mond hat Spaß: „Ein Kater ist er, Kratzinka, nur ein schwarzer schöner Kater. Kulturdenkmäler erinnern an Ereignisse aus fernen Zeiten, an historische Persönlichkeiten, sind Zeugnisse vergangener Zeit. Denk an den Schillerbrunnen, den du heute aufgesucht hast: er erinnert an den großen deutschen Dichter Friedrich Schiller. Naturdenkmäler stellen seltene Gebilde in der Natur unter Schutz, Gebilde, die selten sind, eigenartig oder von seltener Schönheit.“ „Maumaumauro ist doch schön“, flüstert ganz leise Kratzinka.

Seit Hunderten von Jahren kennt der alte Mond diesen Platz am Blücherturm und seine Geschichte, weiß von den Hexenverfolgungen, die zu den alten Zeiten stattfanden und die hier verhandelt wurden. Er weiß, dass zu diesen Zeiten auch kleine Katzen und Kater eine Rolle spielten. Oft werden Hexen – die es aber nur im Märchen gibt –dargestellt als alte, krummgebeugte Frauen mit einer Katze oder einem Kater auf der Schulter.

Kratzinka und Maumaumauro aber stimmen in der stillen Mondnacht ein Duett an.

Ob man es schön findet?? Der alte Mond verzieht sich für längere Zeit hinter eine dicke Nachtwolke. Dort denkt er wie schön es ist, einen Freund oder eine Freundin zu haben, auch wenn man sich für den Erhalt einer Freundschaft manchmal anstrengen muss.

Eine große Stille kehrt bald wieder ein. Ein Hauch von Jasmin-Duft breitet sich aus über Rellinghausen und Stadtwald.