Nathan

von Sigrid Mundt

Nathan ist ein Rabe. Er ist ein kluger Rabe. Ein Rabe, der viel in der Welt herumgekommen ist und der viel sieht und hört, was andere nicht sehen und hören.

Weil sein Gefieder so schwarz ist, sah man ihn in früheren Zeiten als Unglücksbringer an. Das ist er natürlich nicht. Das Wort „Unglücksrabe“ gibt es für ihn aber leider noch heute. Wenn man ihn in der Sonne betrachtet, dann schimmert sein Gefieder ganz wunderbar in Grün-Blautönen. Ein freundlicher und kluger Vogel ist er. Und kräftig und schön.

Nathan fliegt zwischen Stadtwald und Rellinghausen herum, kennt diesen und jenen, kennt alle Rabenvögel der weiteren und näheren Umgebung, besucht auch gerne den Park der Villa Hügel. Am liebsten aber sitzt er zum Abend hin auf seiner steinernen Kugel eines Torpfostens auf der Zeisigstraße.

Es ist November. Den Monat November liebt Nathan besonders, denn, so meinte er, klänge dann seine Stimme – in diesem Monat des Nebels und der kahlen Bäume – am eindrucksvollsten.

Er beobachtet ein gegenüberliegendes Haus. Dort, so weiß er, wohnt der vergessliche Herr Johannes. Nathan hat in der Vergangenheit schon einige Auswirkungen dieser Vergesslichkeit miterlebt: z. B., wenn Herr Johannes sich ausgesperrt hatte, oder er sich nicht erinnern konnte, wo er sein Auto geparkt hatte.

Seit Tagen sieht Nathan kein Licht im Haus von Herrn Johannes. Auch den Hausherrn selbst sieht er nicht hinein, nicht herausgehen. Es rührt sich wirklich nichts. Verlassen scheint das Haus. Überall gehen in den Häusern nach und nach die Lichter an, denn es ist Abend. Nein, bei Herrn Johannes hört man nichts, sieht man nichts.
Sonderbar, sonderbar… Ist da etwas unheimlich?

Nathan fliegt zum Haus hinüber, klopft mit seinem derben Schnabel, so höflich sanft wie möglich, gegen die Tür. Nichts tut sich. Wirklich nichts? Doch, da ist ein Geräusch! Nathan sieht, Nathan hört, er ist ein schlauer und aufmerksamer Vogel.

Vor der Tür steht eine bunt bemalte Milchkanne. Er springt darauf und hebt die Briefkastenklappe vorsichtig hoch. „Kui, kui, kui“ hört er. Merkwürdiges Geräusch!

Wieder und wieder diese sonderbaren Laute – Nathan schaut in die Dunkelheit des Hauses. Durch den Briefkastenschlitz fällt das Licht einer Straßenlaterne auf eine kleine Gestalt, die sich über den Boden schleppt.

„Hallo, wer bist du?“ fragt Nathan durch den Schlitz. „Ich bin Heximexicolaxoatatli.“ „Hä??“ „Ich bin ein Meerschwein, ein Rosettenmeerschwein und komme aus Yucatán.“ „Yucatán?? Da war ich noch nie! Und solch einen Namen, wie du ihn hast, kann ich doch nie und nimmer auskrächzen!“ „Nenn mich doch einfach Heximexi.“ „Okay, ich bin Nathan.“

„Was machst du hier so allein, Heximexi?“ „Ich verhungere hier, weil Johannes seit ewiger Zeit weg ist, verreist, geplatzt, geklaut, geflogen – ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass er der vergesslichste Typ ist, den man sich vorstellen kann: Er hat vergessen, mich bei jemandem unterzubringen, hat nicht an Futter gedacht und hat noch nicht einmal seine Zeitungen abbestellt. Ich habe nun Hunger, habe Durst seit langer Zeit, fühle mich schwach und werde seine Rückkehr wohl nicht mehr erleben.“ Ein schwaches Kui, kui, kui, dann Stille. Nathan ist entsetzt und schreit: “Halte durch, Heximexi, ich werde für dich sorgen!“

Nathan fliegt los und sammelt alles an Essbarem, was auch ihm schmecken würde: Käfer, Würmer, Schnecken, Spinnengetier, – auch ein Mäuschen ist dabei – ein vertrockneter Frosch und ein Rest eines Käsebrötchens, von dem er meint, der würde Heximexi besonders schmecken. Bald ist er zurück und wirft alles nach und nach durch den Briekastenschlitz. Stolz ist er: „Lass es dir schmecken, Heximexi!“

„Ach Nathan, das alles ist kein Futter für mich! Ich bin ein Nagetier und benötige anderes Futter, um gesund zu bleiben, und ich muss auch an meine Zähne denken! Wenn ich das, was du mir gebracht hast, essen würde, würden meine Zähne immer länger und länger und länger werden!“ „So lang wie dein Name?“ „Ich bräuchte Möhren, Salatblätter, knackiges Obst, Kräuter, Paprika, Brokkoli, Zucchini, Gurke und Fenchel. Meine Zähne brauchen Abrieb, weißt du? Den bekommen sie nur, wenn ich ihnen etwas zum Beißen gebe.“ Nathan ist enttäuscht: „Oh, ich rabenschwarzer Raben-Blödmann!“, krächzt Nathan und fliegt sofort wieder los, um die richtige Nahrung für Heximexi herbeizuschaffen.

Nathan denkt nach: An einem bestimmten Tag kommt ein Händler mit Obst und Gemüse nach Stadtwald, weiß er. Das Angebot ist klein, denn es gibt nur diesen einen Stand, aber dort würde er schon all das finden, was Heximexi essen dürfte, was ihr schmecken würde, was aber auch mit zu seiner Nahrung zählt. Auf dem Boden vor dem Stand findet Nathan einiges, aber es soll doch abwechslungsreich sein! Da macht Nathan etwas, was man nicht tun darf: Er stibitzt den Marktleuten einige leckere und gesunde Häppchen für Heximexi direkt von der Theke! Oh, oh!

Die Marktleute schreien. Die Kunden versuchen, Nathan zu verscheuchen. Sie wollen Tücher über Nathan werfen. Die Hunde bellen. Schwarze Federn fliegen. Ein Polizist kommt angerannt. Er wirft seine Mütze, um Nathan zu fangen, aber Nathan ist nicht zu fangen. Auf der Frankenstraße halten die Fahrradfahrer an, um mitzubekommen, was sich da tut. Richtig etwas los ist vor dem Marktstand mit dem leckeren und bunten Angebot all der Köstlichkeiten, die die Natur in Hülle und Fülle bereithält. Völlig zerzaust sucht Nathan das Weite.

Klug, wie er ist, hat er sich ein verstecktes Plätzchen gesucht, wo er einige Bröckchen anhäufelt. Im Schnabel kann er ja nicht alles transportieren. Einiges aber nascht er schnell noch selbst. Er fliegt das Haus von Herrn Johannes also mehrmals an und wirft Heximexi nach und nach alles durch den Schlitz.

Heximexi ist gerettet. „He, sag doch mal was! Geht es dir jetzt besser?“ Man hört aber nur lautes Knabbern und Knuspern. Besonders scheint ihr die Gurke zu munden. „Nun sag doch etwas!“ Aber Heximexi kann nicht antworten; der Hunger war einfach zu groß. Sie stopft alles in sich hinein und hat dabei freundliche Gedanken an Nathan. Die Gedanken kann er aber nicht hören und ist etwas enttäuscht, dass sie so gar nichts zu ihm sagt. –

Nun kommt Nathan täglich und sieht bei Tageslicht Heximexi genauer. Sie sitzt auf einem Zeitungsstoß und ist sehr niedlich mit ihren rotweißen Wirbelchen auf schildpattfarbenem Fell und mit den kleinen Wirbelchen, sogar auf der Nase.

„Nathan, mein vergesslicher Johannes ist ja eigentlich ein ganz netter Mensch. Er lacht viel, er zeigt überhaupt viel und oft seine Zähne, nämlich, wenn er spricht, wenn er gähnt, wenn er redet, wenn er singt, – was oft vorkommt – ja, dann sieht man seine Zähne. Und die sehen so schlimm aus! Einige fehlen sogar! Manche sind ganz braun, manche nur noch als kleine Stummelchen zu sehen! Hoffentlich wachsen schöne neue Zähne bald nach.“

„Nein, Heximexi, bei Menschen erneuern sich Zähne nur einmal im Leben, nämlich in der Zeit ihrer Kinderjahre. Dein guter Herr Johannes hat wohl auch das vergessen: die Zähne zu pflegen und rechtzeitig zum Zahnarzt zu gehen!“ „Oje! Vielleicht kann der Zahnarzt aber doch noch helfen? Ich habe nämlich keine Lust, ihm das Essen vorzukauen, dem Johannes!

Nathan, bleiben wir denn Freunde, auch wenn eines fernen Tages mein Johannes zurück sein wird?“ „Ja, Heximexicolaxoatatli. Sonst hätte ich doch nicht die ganze Zeit deinen verrückten Namen zu krächzen geübt! Geübt, geübt, geübt, bis ich ihn nun im Schlafe kann.“

„Nathan?“

„Ja?“

„Es gibt doch Brieffreundschaften. Gibt es auch Briefkastenfreundschaften?“

„Wir haben doch eine, Heximexicolaxoatatli! Und ich werde dir immer kleine Knabberäste aus dem Stadtwald, aus dem Schellenberger Wald und aus dem Park der Villa Hügel mitbringen, wo wir Rabenvögel uns von Zeit zu Zeit treffen, um über WW zu diskutieren.“ „Was ist WW?“ „Wetter und Wald, Heximexi. Ein wichtiges Thema für uns Vögel, aber auch für die Menschen!

Damit deine Zähne gesund bleiben, habe ich dir heute aber etwas besonders Leckeres mitgebracht, nämlich diesen roten Apfel, den wir nun gemeinsam verspeisen werden, denn er mundet uns beiden gleichermaßen!“

Kleine Bröckchen hackt Nathan nun für seine neue Freundin aus Yucatán aus dem Apfel und wirft sie nach und nach durch den Briefkastenschlitz. „Nathan? Ich bin so froh, dass es dich gibt!“ Auch Nathan freut sich über seine neue Freundschaft und weiß jetzt wenigstens, wo Yucatán liegt.

Wann Johannes zurückkam, was er vorfand an alten Essensresten, an Würmern und Käfern, an Schnecken und Spinnen, wie er ausrutschte auf einem Käsebrötchen, ob er den Frosch und die Maus sofort fand, ob er eines Tages auf Nathan traf, ob er dann doch noch an einen Zahnarztbesuch dachte – das ist eine ganz andere Geschichte.

Für Heximexi war Nathan ein Glücksrabe.