von Siegried Mundt
Ben hat ihn zuerst gesehen, diesen eigenartig gekleideten Mann.Gegenüber von Bens Wohnung, auf der Frankenstraße, steht er.
Unter einem hohen spitzen Hut kommt langes, weißes Haar zum Vorschein. Ein weißer Bart reicht ihm bis zur Brust. Auf dem schwarzen Gewand des Mannes sieht Ben sonderbare fremde Zeichen.
„Mama, komm mal schnell! Da steht ein Mann, der ist ganz sonderbar gekleidet. So läuft doch kein normaler Mensch herum!“
Die Mutter kommt gelaufen, aber da ist kein Mann mehr. Die Straße ist leer; es ist auch noch sehr früh am Morgen. „Ach, Ben, du träumst sicher noch, da ist doch niemand!“
In den darauffolgendenStunden wird dieser Mann aber auch von anderen Leuten gesehen. Mal hier, mal da. Plötzlich steht er irgendwo in Rellinghausen, dann wieder in Stadtwald, plötzlich ist er wieder wie vom Erdboden verschluckt. Die Leute fragen: „Haben Sie den sonderbaren Mann auch gesehen? Was macht er hier? Wer ist das? Und wie kann es sein, dass er so plötzlich verschwinden kann?“
Da passieren in den nächsten Stunden komische Dinge, Dinge, die sich niemand erklären kann: Ein Haus in der Nähe vom Platz Am Ardey soll einen neuen Farbanstrich bekommen. Das Gerüst steht schon. Beige soll es werden.
Zwei Maler kommen mit ihren Farbeimern, mit Pinseln, Rollen und dem dicken Quast. Als der erste Maler die Rolle ansetzt, schreit er laut auf, denn statt einem Beigeton wird der Anstrich grünlich, immer grüner, ja, giftgrün! Das gleiche passiert dem zweiten Maler: Er setzt seine Farbrolle an, und der Farbaufstrich ist rot, knallrot! Erst sind die beiden entsetzt: „Hier stimmt doch etwas nicht! Das ist doch Hexerei! Oder Zauberei?“
Dann aber gefallen ihnen die kräftigen Farben und sie rollen und pinseln kreuz und quer wild durcheinander: rot, grün, rot, grün, grün, rot, rot, rot. Menschen sind stehengeblieben und staunen nur noch. Die beiden Maler lachen und singen: „Wir sind die Maler Klecksel, Kleckserei ist Hexerei, klecksen macht uns froh und frei!“
Sie werfendie Pinsel in die Luft und stolpern über die Farbeimer. Den Rest der Farbe bekommt ein Hund ab, der gerade des Weges kommt. Aufjaulend verschwindet der Hund, denn wer möchte schon wie ein bunter Hund durch die Gegend gehen?
Was ist denn bloß in Rellinghausen los?
Bens Mutter möchte eine Palette Eier kaufen. 36 Stück sollen es sein, denn Ostern naht. Doch mitten im Laden hört sie ein leises Knacken. Es kommt aus der Eierpalette. Feine Risse zeigen sich auf den Eiern und dann – die Schalen zerspringen, und heraus kommen kunterbunte Küken!
Die Küken piepsen, schlagen mit ihren kleinen blauen, rosa, lila, türkisfarbenen Flügelstummelchen, springen von der Palette und verteilen sich über den Boden des Ladens.
„Ach, wie niedlich, wie sü.!“, rufen die Leute. Sie passen auf, dass sie nicht etwa auf eins von den Hühnchen treten.
Was ist denn bloß in Stadtwald los?
Ben und seine Freundin Lotta kommen aus der Schule. Die Ferien sollen beginnen. Plötzlich huscht etwas flink über die Straße. Klein und grün ist es. Auf dem Rücken hat es Stacheln bis zur Schwanzspitze hinunter. „Hast du das gesehen?“, fragt Ben. „Ja“, flüstert Lotta. „Sah aus wie ein kleiner Saurier:“ „Wenn du es nicht auch gesehen hättest, würde ich denken, ich spinne.“ In der Stille des Mittags hört man hier und da und dort ein Dzzz, dzzz., und den Kindern wird es etwas unheimlich.
„Komm schnell nach Hause, du darfst bei uns mitessen“, sagt Ben. Sie erzählen Bens Mutter von ihrer Begegnung mit dem grünlichen Etwas und von dem Dzzz, dzzz. Die Mutter wird nachdenklich, denn auch sie hatte doch das Erlebnis mit den bunten Küken – und sie sagt leise vor sich hin:
„Was ist denn bloß in Stadtwald los?“
Auch in Rellinghausen taucht kurz dieser Mann mit dem spitzen Hut wieder auf. Etwas versteckt steht er am Blücherturm. Auch Frau Pumpel erblickt ihn.
Frau Pumpel, die nie Erfolg mit ihrer Rosenzucht hatte, sieht plötzlich, wie in ihren Balkonkästen, in ihrem Gärtchen die Blumen herrlich erblühen: weiß, rosa, rot und so groß, wie ein Pizzateller! Tausende von bunt schillernden Schmetterlingen, manche so groß wie eine Kuchenplatte, gaukeln wie eine bunte Wolke durch die Straßen. Frau Pumpel streckt ihre Hand aus, und ein grün schillernder Schmetterling landet auf ihrem Handteller.
Er klappt seine Flügel auf und zu, aber als Frau Pumpel ihn vorsichtig berühren will, löst er sich in Luft auf. Glücklich, aber auch nachdenklich geworden, sagt sie leise vor sich hin:
„Was ist denn bloß in Rellinghausen los?“
Rellinghausen gab es schon vor langen, langen Zeiten. Früher hieß es aber anders: Ruolding-hus. Aber was sind hunderte von Jahren gegen 225 Millionen von Jahren? Und vor dieser langen Zeit gab es die Saurier. Zu dieser Zeit gab es auch solch große Schmetterlinge. Aber heute??
Ben und Lotta gehen am Nachmittag nach draußen. Zwei Reisebusse sind angekommen. Die Menschen möchten sich einer Führung anschließen, um die schöne grüne Umgebung des Essener Südens gemeinsam zu erleben und um sich die vielen historischen Bauwerke erklären zu lassen.
Plötzlich – die Leute sind noch gar nicht alle aus den Bussen ausgestiegen – hören einige von ihnen dieses Dzzdzz; es wird immer lauter, sie drehen sich um und um und dann – was denkt ihr, was sie da sehen? Ja, kleine flinke Saurier, drei, vier, fünf, sechs Stück!
Sie tanzen um die Menschen herum und singen: „So jung wie heut sind wir nur einmal, drum lasst uns feiern wie in alten Zeiten!“ Das gefällt vor allem den älteren Leuten so gut, dass sie anfangen zu tanzen. Sie werfen ihre Stöcke in die Luft, andere ihre Hüte und Kappen. Die Omis raffen ihre Röcke hoch, und längst vergessene Tanzschritte fallen ihnen wieder ein. „Eine tolle Werbeidee ist das!“, meint eine Dame begeistert, „aber wofür machen die denn wohl Werbung? Vielleicht für Tauchanzüge? Oder für einen Fitness -Trank für Sportler, oder für ältere Menschen?“
Immer mehr Menschen haben sich nun angeschlossen: Hausfrauen, Handwerker, Ladenbesitzer und viele Kinder. Auch Lotta und Ben sind dabei. Alle singen und tanzen und sind fröhlich. Vornan die kleinen Saurier, und dahinter die Omis und Opis und viele Bürger aus Stadtwald und Rellinghausen.
Aber nun fällt es auch den Besuchern aus den Bussen auf: Überall, wo sie etwas besichtigen dürfen, gibt es eine Extra-Überraschung: Hinter Schloss Schellenberg steigen 99 bunte Luftballons in den blauen Himmel, und in den Wäldern rund um Stadtwald sieht man so bunte Vögel, wie man sie nur aus tropischen Wäldern kennt.
Überall aber taucht ganz kurz dieser Mann mit dem spitzen Hut auf.–
Was ist denn nur im Essener Süden los?
Fröhlich und beschwingt, müde und zufrieden kehren alle am Abend von ihren Besichtigungen zurück.
Aber es warten noch weitere Überraschungen auf die Gäste:
In Stadtwald und in Rellinghausen werden Tische und Bänke auf die Straßen gestellt und alle, die etwas anzubieten haben, stellen es auf die Tische: Bratwurst und Pommes, Döner vom Türken, Gyros vom Griechen, Spaghettigerichte vom Italiener, süße Teilchen von den Bäckern, auch Kuchen und Torten. Bier, Wein, Limo und Säfte für die Kinder fehlen nicht.
Die Sonne geht langsam unter. Die Stimmung wird immer ausgelassener und sogar verfeindete Nachbarn vertragen sich wieder.
„Ach, dass das so ein schöner Tag werden würde, hätte ich nicht gedacht!“, sagt eine Dame und stopft das dritte Tortenstück in den Mund.
„Nach Rellinghausen und Stadtwald kommen wir jetzt öfter!“, meint ein Herr und küsst die falsche Dame.
Aber, wo sind die Saurier? Wo sind die Schmetterlinge? Die Blüten der Frau Pumpel sind wieder im Normalzustand – klein und mickrig. Das frisch gestrichene Haus zeigt sich im braven Beigeton, und im Kühlschrank von Bens Mutter liegen unversehrt 36 Eier und warten auf ihren österlichen Anstrich.
Ben und Lotta sehen ihn. Sie sehen den sonderbaren Mann mit dem spitzen Hut auf weißem Haar, mit dem langen weißen Bart auf schwarzem Gewand. Sie können beide plötzlich diese Zeichen lesen:
Ein einzelner blauer Luftballon – es ist der hundertste – steigt in den Himmel. Pff! Er zerplatzt.
In der untergehenden Sonne blitzt kurz der Zauberstab auf.
Dann ist der Mann verschwunden. Zwei Zitronenfalter umspielen Ben und Lotta. „Weißt du“, sagt Lotta, „mir sind die echten Schmetterlinge und die echten Blumen lieber. Und unsere Vögel sind auch schön bunt. Und sie können singen! Und sie bleiben! Und die Blumen duften. Schützen sollten wir alle und alles.“
„Lotta?“ „Ja, Ben?“ „Wenn ich groß bin, möchte ich Zauberer werden, denn ich glaube, damit kann man Kindern und Erwachsenen viel Freude machen!“ „Ja, eine kurze, lustige Freude, und ich werde deine Assistentin!“