von Siegried Mundt
Gretchen Schwebchen ist ein kleines Gespenst und schwebt gerne in und um Rellinghausen und Stadtwald. Dort schwebt es seit hunderten von Jahren, aber manchmal zieht es das kleine, sehr niedliche Gespenst zur Isenburg.
Dort sitzt es beim Schein des vollen Mondes im noch vorhandenen Fenster der Burgruine und schaut auf den tief unten liegenden, glitzernden Baldeneysee hinunter.
Es hört dem Flüstern der alten Steinmauern zu, hört die Geschichten über die Ritter und ihrer Edelfrauen. Auch Gretchen Schwebchen hätte etwas zu erzählen, aber die alten Mauern wollen nur ihre eigene Geschichte erzählen.
„Ich möchte auch mal etwas erzählen“, denkt es traurig.
Da sieht es plötzlich zwei orange-glühende Augen im Laub der Bäume. Wer oder was mag das sein? Es schwebt sanft und vorsichtig in Richtung der Lichter. „Was wedelst du da vor meinen Augen herum“, hört es eine knurrige Stimme. Ein alter Uhu sitzt im Baum und fühlt sich gestört.
„Ich bin doch nur auf der Suche nach jemandem, dem ich etwas erzählen kann, jemandem, der mir ein guter Freund sein könnte. Manchmal fühle ich mich wie etwas aus der Zeit gefallen, weißt du?“ Gretchen Schwebchen umgaukelt den alten Uhu, achtet darauf, ihm nicht die Sicht zu nehmen. Es bewundert die Größe des Uhus, seine glühenden Augen, sein in Brauntönen wunderbar gemustertes Federkleid, die lustigen Federohren, aber auch die großen starken Greifkrallen. Es krault ihm seine Federöhrchen so sanft, wie es nur kleine Gespenster können, denn Gespenster sind so sanft, so zart und fast durchscheinend. Ob er es überhaupt spürt?
„Was willst du von mir, dass du mich so bewunderst?“, knurrt der alte Uhu und zwinkert nervös mit einem seiner glühenden Augen.
„Sei mein nächtlicher Freund und begleite mich nach Rellinghausen, in die Nähe der heutigen St. Annen-Kapelle. Dorthin, wo vor langen, langen Zeiten ein Säckchen mit gestohlenen, geweihten Hostien gefunden wurde.“
„U-hu, u-hu, kenne die Geschichte. Schlimme Sache. Diebstahl in Stiftskirche. Heißt heute St. Lambertus-Kirche. U-hu, u-hu. Schafe fanden die Hostien hinter einem Dornenbusch versteckt im Mühlental. Lang ist es her, uhu, uhu. Wo ist der gestohlene goldene Kelch? U-hu, uhu!“
„Oh, du scheinst ein gebildeter Uhu zu sein! Dann weißt du sicher auch, dass dort am Fundort der Hostien eine Sühnekapelle, später eine neue Kapelle erbaut wurde und dass heute über dem Eingang einer neuen Kapelle ein Schaf-Relief zu sehen ist. Es wurde nach dem zweiten Weltkrieg gestaltet und in die Kapelle eingefügt.“
„Vom zweiten Weltkrieg habe ich gehört, uhu, also muss es auch einen ersten gegeben haben!“ „Schlaumeier, der du bist!“, lacht das kleine Gespenst.
„Und deine e i g e n e Geschichte, wie geht die? U-hu, u-hu.“
„Damals“ – so beginnt das kleine Gespenst mit seiner Erzählung – „damals war ich ein Kind und hatte einen guten Freund, den Jakob. Zu dieser Zeit gab es viel Armut im Land, und nicht alle Kinder hatten so schönes Spielzeug wie wir. Die Eltern der meisten Kinder waren so arm, dass es oft nicht zum Nötigsten reichte. Als wir Kinder die Geschichte von dem Kirchenraub hörten, beschlossen wir, unser Spielzeug zu vergraben, damit es uns niemand stehlen konnte. Für uns waren unsere Spielsachen nämlich auch ein Schatz, ein großer Schatz, um den uns viele Kinder beneideten. An einem dunklen Abend schlichen wir uns ins Mühlenbachtal, suchten nach einer geeigneten Stelle und buddelten mit großer Anstrengung ein Loch. In einer großen Blechdose verwahrt, mit Ölpapier umwickelt, sollte unser Schatz vor Dieben sicher sein. Es war eine dunkle Nacht. In der Nähe riefen solche, wie du einer bist: u-hu, u-hu. Wir fürchteten uns sehr. Ein Sturm peitschte die Äste, dass sie knarrten. Dann setzte auch noch Regen ein. Wir waren klitschnass und mussten sehen, dass uns die Eltern nicht erwischten. Irgendwann aber vergaßen wir unseren Schatz. Doch nun muss ich nach so vielen Jahrhunderten wieder daran denken. Vielleicht auch durch die alten Erzählungen der Steine, der Mauern hier oben? Ich möchte die Blechdose suchen. Und du, du sollst mir dabei helfen.“
Gutmütig, und auch neugierig geworden, schwingt sich der alte Uhu kraftvoll und geräuschlos in die Luft. „Lass uns aufbrechen!“ Gretchen Schwebchen flattert und schwebt um ihn herum. Lautlos gleiten sie über die Bäume. Hell steht der Mond über Schloss Schellenberg, weist ihnen den Weg. Hell, und vom Mondlicht durchschienen, streift Gretchen Schwebchen wie ein Nebelstreif über die Flügel des Uhus, flüstert ihm eine kleine Melodie ins Federöhrchen. „Hör auf damit, hab meine eigene Melodie, uhu, uhuuu!“
Genau um Mitternacht landen sie in der Nähe der St. Annen-Kapelle.
Von diesem Moment an kann der alte Uhu Gretchen Schwebchen als kleine Gestalt erkennen: es ist kein Nebelstreif mehr, sondern ein zartes, helles, durchscheinendes Wesen in menschlicher Gestalt. “Bist du aber niedlich!“, staunt er und klimpert einige Male mit seinen Augenlidern über den glühenden Augen.
Nach einer kurzen Zeit des Suchens findet Gretchen Schwebchen eine Stelle, die etwas anders aussieht, als die Umgebung: etwas bucklig, etwas wilder bewachsen, etwas abseits. Überhaupt sieht alles verändert aus. Die vielen Veränderungen während der Jahrhunderte hat Gretchen Schwebchen alle mitbekommen. Es waren Veränderungen der Landschaft, Veränderungen der Gebäude, also auch der Kapelle. Auch hieß früher Rellinghausen anders als heute. Gretchen Schwebchen findet aber die Stelle, nach der sie sucht, trotzdem sehr schnell.
„Komm, fang an mit deinen kräftigen Greifkrallen zu buddeln!“ Es dauert nicht lange, da hört man ein Geräusch: raschelnd, metallisch. Die letzten Brocken befördert der alte Uhu sehr schwungvoll zur Seite. „He, du triffst mich!“ „Ach, dir kann das doch nichts ausmachen, bist doch nur ein Lüftchen!“ „Doch, doch, doch! Ich spüre alles! Spüre Freude, spüre Traurigkeit, spüre Kälte, spüre Wärme. Spüre auch Berührung und somit auch diese Erdbrocken, Steine, Grasbüschel.“ „Meckere nicht herum, wenn ich dir schon helfe! Geh doch einfach zur Seite!“, murrt der alte Uhu.
Da! Da liegt die Blechdose vor ihnen. Das Ölpapier ist brüchig, zersetzt sich, darunter die angerostete Dose. „Hilf mir, den Deckel zu heben!“, bittet das kleine Gespenst. „Null Problemo!“
Nun sieht Gretchen Schwebchen all die Spielsachen aus alter Zeit: ein kleines, geschnitztes Holzpferdchen, Zinnsoldaten, bunte, aus Ton geformte Murmeln, Kreisel in allen Formen, eine Stoffpuppe, buntes Garn und eine Häkelnadel, besondere Knöpfe, aus Knochen gefertigte Würfel mit aufgemalten Augen, eine kleine Trommel und – passend zur Geschichte des Raubes – ein kleines, aus Wolle gefertigtes Schaf. Viele andere Dinge, die es so heute nicht mehr gibt, kommen zum Vorschein.
Aber dann – die Spieldose! Mit seinem derben Schnabel berührt der Uhu genau die richtige Stelle und eine kleine Melodie erklingt nach so vielen Jahren zum ersten Mal wieder in unserer heutigen Zeit: Eine Singspiel-Melodie ist es, und Gretchen Schwebchen beginnt zu tanzen. Es lacht, es schwebt, es umschwebt den Turm der St. Annen-Kapelle, aber es schluchzt auch ein bisschen, denn es kann sich nun wieder an alles ganz genau erinnern: an dieses Spiel, an die Kinder und an den Freund Jakob. Ach, Jakob!
„Drüben am Carolasee,
wo die Fischlein schwimmen,
freuet sich mein ganzes Herz,
lauter Lust und Singen.
Rola, rola, wir sind hier, der Goldfisch,
der Goldfisch, der folget mir.“
„Oh, ich erinnere mich: jedes Kind bekam den Namen eines Fisches zugeteilt. Dann wurde ein Fischname aufgerufen und das Kind, welches gerade diesen Namen hatte, musste sich in den Kreis einreihen. So wurde der Kreis immer größer und wir lernten dabei auch die verschiedenen Fischnamen kennen; gerne tanzten wir diesen Fischreigen.“
Ja, d a s gibt es: Wenn eine Erinnerung schön ist, dann kann man lächeln, kann lachen und gleichzeitig aber auch weinen (nur ein bisschen).
„Pack alles wieder ein!“, flüstert Gretchen Schwebchen. „Ich kann ja doch nichts mitnehmen. Vielleicht findet in hundert Jahren ein Kind diesen kleinen Hügel, vielleicht wieder ein Schäfer mit seiner Herde, vielleicht ein Bauarbeiter. Vielleicht landen diese Spielsachen aber auch irgendwann in einem Spielzeug-Museum?
Danke, mein lieber Freund! Durch deine Hilfe konnte ich noch einmal das sehen, was uns Kindern der damaligen Zeit Freude machte und was uns als so wertvoll erschien. Noch einmal konnte ich diese Melodie hören. Vielleicht kann auch ich dir einmal behilflich sein? Sich gegenseitig helfen, hält Freundschaften stabil!“.
„Komm mich recht oft besuchen, oben, auf der Isenburg, aber vernebele mir nicht wieder die Sicht!“ Der Uhu breitet seine Flügel geräuschlos aus und hebt ab. Sein dunkler Schatten liegt auf der mondbeschienenen St. Annen-Kapelle, dann verhält er kurz in der Luft, steht in der Luft und betrachtet sich das Relief des kleinen Schafes genau. Dann gleitet er davon. Noch eine Weile hört Gretchen Schwebchen seinen Ruf, der gleichzeitig auch sein Name ist: Uhu.
Gretchen Schwebchen aber wird wieder zum Nebelstreif, denn Mitternacht ist vorbei.