Zwei ungleiche Freunde

von Sigrid Mundt

Nun blühen die Rosen von Frau Pumpel aus Rellinghausen wieder so schön, wie sie es sich immer gewünscht hat. Und da ist keine Zauberei dabei; das Wetter war so freundlich. Seit einiger Zeit freut sich auch ein kleiner Käfer über die Rosen: Es ist Roman, der Rosenkäfer.

Nein, Frau Pumpel ärgert sich nicht über ihn, denn er ist kein Schädling. Er ist ein Nützling und steht unter Naturschutz. Roman knabbert nur so ein bisschen an ihren Rosen, nascht genüsslich die Säfte verletzter Pflanzen, mag die Pollen der Rosen, bestäubt die Blüten und ist so wunderschön, dass Frau Pumpel ihn ihren fliegenden Edelstein nennt. Goldgrün und metallisch schimmernd fliegt er tief brummend von Blüte zu Blüte und freut sich seines Lebens.

Ein langer Sommertag neigt sich dem Ende zu. Still wird es ringsum. Aber unten im Gras raschelt es, schnauft es, faucht es ein bisschen. Roman, der Rosenkäfer, weiß, wer der abendliche Besucher da unter seinem Rosenstrauch ist: Es ist Igor, der Igel.

Igor, mit seinen lustigen Knopfaugen, mit seinem spitzen Schnäuzchen und dem gefährlich aussehenden Stachelrücken ist – genau wie Roman – kein Schädling, denn er hält den Garten von Frau Pumpel in Ordnung. Sein Stachelkleid besteht aus 7.000 Stacheln, und damit ist er gut gerüstet gegen seine Feinde wie Dachs und Uhu. Graubraun ist die Farbe des Igels, weich und flauschig Kopf, Bauch und Beinchen. Seine Nahrung besteht aus Raupen, Spinnengetier, Mäusen und Käfern.

O weh! Roman i s t ein Käfer! Wird es jetzt gefährlich für Roman?

„He, Igor!“, ruft Roman. „Altes Stachelhaus auf deinen kurzen Beinen, scheinst auch nicht mehr der Jüngste zu sein! Schnaufst wie ein alter Rasenmäher!“ „Werd nicht frech, da oben, Lieblingsspeise!“, gibt Igor zurück. „He, Heckenschwein, siehst ein bisschen griesgrämig um deine Spitznase herum aus!“; kontert Roman. So necken sich die beiden gerne und verstehen sich – auf ausreichend Abstand – gut. „Komm doch mal runter, Freund Roman; so lässt sich doch besser reden!“ „Nee, Igor, für wie blöd hältst du mich? Meine Schwester Mina hast du auch verputzt! Lassen wir alles so, wie es ist: Ich bleib hier oben, du da unten.“

Igor auf seinen kurzen Beinchen kommt nicht sehr weit herum, aber wenn es drauf ankommt, kann er schon recht eilig tippeln und auch mal zwei Kilometer weit laufen. Das aber tut er nicht so gern. Roman fliegt oft und viel durch die Gegend. Er sieht daher manches, erlebt einiges und erzählt Igor Geschichten aus Rellinghausen und aus Stadtwald. Das liebt Igor sehr. Und Igor sagt jeden Tag, wie schön er Roman findet. Das liebt Roman sehr.

„Hast du heute eine Geschichte für mich, Roman?“ „Für dich immer, mein Lieber.“

„Neulich“, so beginnt Roman, „neulich wehte mich ein heftiger Windstoß in die Lambertuskirche. Die Tür war gerade geöffnet. (Wir wissen, dass die Lambertuskirche ein denkmalgeschütztes Kirchengebäude ist und Standort des ehemaligen Frauenstifts, welches um das Jahr 990 von der Äbtissin Mathilde gegründet wurde. Im Laufe der Jahrhunderte musste diese Kirche viele grundlegende Änderungen und Veränderungen erfahren.)

Ich flog völlig verwirrt herum, wusste nicht, wo ich überhaupt gelandet war. Ich sah große Bogenfenster, durch die das Sonnenlicht fiel, und ich stellte mir vor, wie herrlich jetzt mein gold-grün-orangefarbener Panzer aussehen musste: glänzend, schimmernd und die Farben wechselnd im Licht der Nachmittagssonne. Plötzlich erfüllte ein Brausen die Stille des großen Raumes. Ich erschrak so sehr, dass ich umfiel. Mühsam, und mit den Beinen zappelnd, kam ich wieder in Flugmodus. Was ist das?? Ich taumelte orientierungslos durch den großen, mir fremden Raum, stieß gegen die Fenster, gegen einen riesigen Radleuchter und torkelte im Zickzack empor zu einem Gebilde mit sonderbaren Röhren.“

„O je!“, ruft Igor. „Was war das denn?“, und lauscht gebannt der Erzählung seines Freundes Roman.

„Was rauscht da so gewaltig, was lässt mich erzittern? Ja, es war die Orgel, auf der der Organist probte! Ich begann zu summen, zu brummen in meinen tiefsten Brummtönen und so laut ich konnte. Ich wollte die Orgel übertönen. Ich umflog den Kopf des Organisten, brummte ihm kräftig in die Ohren. Aufhören sollte er!

Er versuchte, mich abzuwehren, erwischte mich kurz, aber ich konnte mich befreien. Die Töne, die aus den Orgelpfeifen kamen, waren nun ganz schrill, nur noch laut und scheußlich und schief. Das war gewiss meine Schuld: ich hatte ihn beim Proben gestört.“

„Nein!“, ruft Igor zitternd, und vor Neugier fast platzend und presst seine Knopfaugen zusammen, möchte aber mehr hören. „Erzähl weiter, erzähl weiter!“ „Krieg dich wieder ein!“, lacht Roman und berichtet weiter:

„Dann fiel ich wieder um. Du siehst, dass ich mit meinem dicken Panzer etwas schwerfällig bin, und mein zweites Flügelpaar, welches aus einer Wölbung meines Panzers kommt, ist zart. Dann sah und hörte ich nichts mehr. Als ich erwachte, war Stille, war Dunkelheit. Durch einen Türspalt kam ich ins Freie und sah in den Nachthimmel.“

„Wow, das hört sich nach Käfer-Abenteuer an.“ Igor atmet laut aus. „Ich möchte auch mal etwas erleben, aber hier im Garten von Frau Pumpel bist ja nur du.“

„Danke! Aber zum Geschichtenerzählen tauge ich? Geh doch einfach mal raus, vielleicht erlebst du dann auch etwas. Aber sag mir unbedingt vorher Bescheid!“

Am folgenden Spätnachmittag hört Roman keine vertrauten Schnaufgeräusche. Er sieht auch keinen Igor. Auch nicht am nächsten, auch nicht am übernächsten Tag. Was ist da geschehen? Roman macht sich Sorgen.

Igor hat, ohne Bescheid zu sagen, seine Beinchen in Bewegung gesetzt und ist bis zum Stiepelturm getippelt. Den kennt er von früher.

(Wir wissen, dass der Stiepelturm östlich der Lambertuskirche steht und im 15.Jh. ein Teil des Stiftsgebäudes war. In den dazugehörenden Fachwerkhäusern wohnten bäuerliche Menschen, die in den damals wirren Zeiten den Turm als Verteidigungsturm und auch als Zufluchtsort benutzten. Der Stiepelturm ist eines der ältesten Baudenkmäler der Stadt Essen. Heute steht noch ein Teil des Turmes, der in früheren Zeiten aber höher war.)

Am Spätnachmittag des dritten Tages hört Roman endlich die vertrauten Schmatzgeräusche und weiß: Igor ist wieder da! Er freut sich, aber er ist auch böse auf Igor, denn er hatte nicht Bescheid gesagt!

„Ich, ich, ich hatte ein Abenteuer!“, stottert Igor. „Herminchen ist die süßeste und klügste und netteste Igeldame, und ich wollte sie mit nach hier bringen. Sie aber besteht darauf, dass ich zu ihr in die Nähe des Stiepelturmes ziehen soll. Also, Freund Roman: Wir müssen Abschied nehmen!“

Ja, Igor hat sich verliebt. Roman ist sehr traurig. „Na dann – Gute Nacht, Igor, und viel Glück!“ Roman verschwindet in seinen duftenden Rosen. Frau Pumpel kommt mit der großen Gießkanne und beide bekommen noch einen Abschiedstrunk verpasst.

Es vergeht eine lange Zeit.

Als der Herbst die ersten Blätter bunt zu färben beginnt, da hört Roman plötzlich wieder diese Geräusche unter seinem Strauch. Was meint Ihr, wen er erblickt? Ja, Igor ist wieder da und mit ihm Herminchen und, und, und vier kleine Igelkinder!

Frau Pumpel schreit begeistert: „Süüüüß, süß, so zuckersüß! Ach, sind die aber niiiiedlich!“ Schnell richtet sie einen großen Unterschlupf für die Igel ein: Zweige, Laub vom Vorjahr, morsche Holzteile, Moos. Der Winter kann kommen. Aber bis dahin ist es noch eine ganze Weile. Noch sind die Bäume bunt, noch duften die Rosen ein bisschen, aber der Duft ist etwas anders geworden, ein bisschen duften sie nach Abschied vom Sommer. Roman hebt seine kleinen Flügel, die unter dem schillernden Panzer liegen, ein wenig hoch und lässt die letzten warmen Sonnenstrahlen darunter her.

Frau Pumpel singt am offenen Fenster: „Letzte Rose in meinem Garten“.

Die kleinen Igelkinder haben keine weichen Stachelrücken mehr; ihre Stacheln sind nun genauso hart und wehrhaft wie die der Eltern. Im nächsten Jahr werden sie aus dem Garten von Frau Pumpel ausziehen und ein eigenes Leben beginnen.

Igor aber wird bleiben, und mit ihm Herminchen. Roman und Igor bleiben Freunde. Freunde, so lange es Mutter Natur erlaubt.