von Sigrid Mundt
Die blonde Jutta ist befreundet mit Ina. Die beiden Mädchen sind b e s t e Freundinnen. Kennengelernt haben sie sich in der KITA Rübezahl in Stadtwald.
Beide Mädchen sind kleine Leseratten. Oft besuchen sie sich gegenseitig und leihen sich Bücher aus: Pferdebücher, Abenteuergeschichten und auch Bücher, aus denen man etwas über unsere Natur lernen kann. Gerne besuchen sie gemeinsam ab und zu die Stadtbibliothek und finden immer etwas, was sie beide anspricht. Manches können sie auch für die Schule gebrauchen; ja, Jutta und Ina gehen auch gemeinsam in eine Schulklasse.
Heute findet Ina aus Rellinghausen Jutta in großer Aufregung vor: „Sieh dir das mal an!“ Jutta hält Ina ein aufgeschlagenes Buch hin. Ina schaut erstaunt in das Buch. Es ist ein Pferdebuch. „Da ist ja gar nichts geschrieben! Da ein einziger Buchstabe! Hier ein Punkt, da ein großes E, ein Fragezeichen, zwei Kommas – die Zeichnungen sind aber noch zu sehen, – das ist sonderbar!“ „Ja, sonderbar und unheimlich! Vor wenigen Tagen habe ich noch in diesem Buch gelesen und jetzt? Nichts mehr davon da.“ Nun sehen sie einige Bücher durch, schlagen die Seiten auf, blättern in Eile. Ein Schrei! „Da ist wieder ein ganzes Buch leer!“
Die beiden Mädchen sind stumm vor Schreck. „Hier geht doch etwas nicht mit rechten Dingen zu! Ein Bücherwurm vielleicht?“, vermutet Ina. „Nee, Bücherwurm hat eine andere Bedeutung, gibt es nicht wirklich“, weiß Jutta.
Als Ina nach einiger Zeit die Frankenstraße entlang nachhause geht, überlegt sie die ganze Zeit, was dort bei ihrer Freundin passiert sein mag, aber sie findet keine Erklärung. Als sie an der Stadtbibliothek vorbeikommt, erfasst sie ein weiterer Schreck: Was, wenn auch eines der Bücher aus der Bibliothek von dieser Leere befallen sein sollte!?
An einem regnerischen Spätnachmittag hat Jutta Lust zum Lesen. Sie hat sich ein besonders spannendes Buch ausgeliehen. Aus der Stadtbibliothek. Plötzlich hört sie aus der Richtung ihres Bücherregals ein Geräusch. Sie schaut nach. Nichts ist zu sehen. Vielleicht eine Fliege, ein Falter? Eine kurze Zeit Ruhe.
Aber da ist doch wieder dieses schabende, zischende Geräusch! Dann ein Knistern, ganz so, als würde Papier bewegt. Jutta schleicht sich in Richtung der Geräusche. Sie bleibt ganz still stehen, beobachtet ihre Bücher, hält die Luft an, denn sie will, dass der oder das, was diese Geräusche macht, von ihr überrascht wird.
Und tatsächlich – da ist eine Bewegung an einem der Bücher! Die Seiten teilen sich kaum sichtbar und eine winzige, grüne Hand erscheint. Ein kleines Kerlchen, nicht größer als Juttas Daumen, klettert vollends heraus und verschwindet kopfüber sofort in einem neuen Spalt des Buches. Weg ist es. Jutta hört es rumoren, hört wieder diese Geräusche. War das wirklich eine Hand gewesen? Hat ihr ihre Phantasie einen Streich gespielt? Vielleicht war es eine Heuschrecke, grün, mit langen Beinen?
Jutta ist unheimlich zumute. Ängstlich greift sie zu dem Buch, zieht es vorsichtig heraus und schlägt zaghaft die Stelle auf, die etwas auseinanderklafft! „Huch!“ schreit sie und schlägt das Buch heftig zu. Das war keine Heuschrecke! Das ist ein giftgrünes, winziges Wesen mit einem gelbgrünen Gesicht!
„Aufmachen! Mach sofort das Buch auf!“, krächzt da eine kleine, aber giftig klingende Stimme aus dem Inneren des Buches.
Jutta öffnet vorsichtig das Buch. Da liegt es: etwas flach und grün, mit ausgebreiteten Armen und Beinen, spitzt die Schnute, spitzt sie weiter, bis sich ein kleiner Rüssel gebildet hat und spuckt Jutta eine Flüssigkeit auf die Hand.
„Du, du, du bist das, was unsere Bücher verdirbt!“, schreit Jutta erbost. Wer bist du, warum tust du das? Ich hasse dich! Du bist ein böses, ekelhaftes, fieses und gemeines …!“ Jutta bleiben die Worte weg vor lauter Aufregung und Wut.
„AZ. Mein Name ist AZ, dir fehlte doch eben ein Wort für mich, nicht? Ja, ich bin ein AZ und ich kann so ätzend sein, so wunderbar ätzend! Ich ätze alles weg, weg, weg von A bis Zett! Buchstaben, Worte, Sätze – die alle müssen weg, weil ich sie nun mal nicht leiden kann, weil sie mich ärgern, weil ich sie nicht verstehe. Gekrakel, das alles!“
Juttas Hand beginnt zu brennen. „Dich ärgert doch das alles, weil du nicht schreiben und lesen kannst! Du solltest versuchen es zu erlernen!“
„Nein, und nochmals nein!“, kreischt das AZ und beginnt wieder zu spucken. Jutta schlägt das Buch zu. „Hoffentlich ist es jetzt platt, platt wie Papier“, denkt Jutta.
Ina kann am nächsten Tag kaum glauben, was sie von Jutta erfährt. Gemeinsam schauen sie nach, ob das grüne Ding noch ätzt. Als sie einige Bücher durchblättern, finden sie tatsächlich immer wieder leergeätzte Seiten. Auch Bücher, die Ina an Jutta verliehen hat, sind teilweise leer. Ganz schlimm ist aber, dass tatsächlich auch Bücher aus der Stadtbibliothek betroffen sind! „Was soll ich dort erzählen? Das glaubt mir doch kein Mensch, was wir hier erleben!“ Jutta ist den Tränen nahe.
Jutta stößt Ina an: „Sieh mal dort!“, flüstert sie. Jetzt beginnt Ina sich zu fürchten. „Ja, da bewegt sich etwas!“
„AZ, komm raus, ich möchte dir meine Freundin vorstellen; ihre Bücher kennst du ja schon von A bis Zett. Komm also raus!“ Neugierig erscheint tatsächlich das AZ. Ina bleibt der Mund offenstehen. Etwas Derartiges hat sie noch nie gesehen: die Augen des AZ sind glupschig wie die Augen eines Frosches, nur nicht so golden glänzend, sondern giftgrün. Seinen Rüssel hat es voll ausgefahren und fährt damit gerade über ein schönes großes Jott. Weg ist es, das Jott. Jott, wie Jutta.
„Ihr stört meine Arbeit!“, kreischt das AZ und wechselt vor Wut seine Farbe zu einem grellen Rot.
„Nee, DU zerstörst unsere Bücher, die Arbeit von Schriftstellern und Dichtern. Du zerstörst die Arbeit von all den Menschen, die am Entstehen eines Buches beteiligt sind! Wenn du nicht sofort damit aufhörst, stecken wir dich hier in diese Milchflasche, da kannst du Schwimmen lernen!“, schimpft jetzt Ina.
„Nicht Milchflasche, nie, nie, niemals Milchflasche, bitte, bitte das nicht!“, kreischt krächzend das AZ. „Die Milch zersetzt mich, nimmt mir meine ätzende Flüssigkeit, zerstört mein Leben!“
„Na und? Das wäre doch für niemanden ein Verlust; im Gegenteil: Wir alle wären froh, wenn es so etwas wie dich nicht gäbe!“, ruft Jutta.
Das AZ ist beleidigt und verschwindet in einem der Bücher. Gedämpft hört man es noch vor sich hin schimpfen.
Am Abend – Ina ist nachhause gegangen – hat Jutta eine Idee: Sie setzt sich mit einem besonders spannenden Buch in ihren Sessel und beginnt extra laut zu lesen. Es ist eine Geschichte von einem Professor Duddelhoff, der das verlorengegangene Wort D A N K E sucht. Ab und zu blickt Jutta heimlich zum Bücherregal. Dort ist es jetzt ganz still geworden.
Jutta liest und liest. Als die Spannung besonders groß zu werden verspricht, hört sie auf zu lesen. Plötzlich krabbelt lautstark und in großer Eile das AZ aus einem der Bücher. „Weiter!“, kreischt es. „Los, weiter, weiter, ich will hören, was jetzt passiert, wie die Geschichte weitergeht! Nun mach schon, Tempo!“
„Nö, hab keine Lust mehr. Ich gehe jetzt ins Bett“, sagt gähnend Jutta und schließt das Buch mit einem energischen Klapp.
Aber das AZ gibt keine Ruhe. Es flitzt auf den Regalbrettern hin und her, spuckt voller Wut um sich, trommelt mit den Fäusten gegen die Bücherrücken und schreit: „Ich will, ich will, ich will das jetzt zu Ende hören!“
„Siehst du, so geht es uns nämlich auch. Auch wir möchten unsere Bücher zu Ende lesen können, und zwar Satz für Satz. Auch wir möchten wissen, wie eine Geschichte weiter geht, aber du verdirbst uns das alles, indem du es wegätzt!“ Das AZ guckt ziemlich dümmlich Jutta mit seinen Glupschaugen an und weiß keine Antwort mehr. So steht es verblüfft und stumm, und aus seinem Rüssel tropft noch etwas von der ätzenden Flüssigkeit. Es ärgert sich, weil das, was Jutta sagt, stimmt. Es weiß keine Antwort.
Da streckt es Jutta frech die Zunge raus, spuckt zum Abschied in hohem Bogen, reißt wütend und schnell noch eine dichtbedruckte Seite aus einem der Bücher, setzt sich darauf und segelt auf einem Abendwindchen zum geöffneten Fenster hinaus.
Nie mehr hat man etwas von ihm gehört. Und das ist gut so.
Zwei der Bücher aus der Stadtbibliothek müssen ersetzt werden, denn leergeätzte Bücher kann man dort nicht gebrauchen oder gar verleihen.