von Sigrid Mundt
In und um Stadtwald und Rellinghausen herum gibt es viel Grün, viel Wald. Darüber freuen sich Mensch und Tier sehr. Aber es gibt noch ein Wesen, welches sich über den Wald freut: Es ist Walli Wurzelschwung; nicht Mensch, nicht Tier, eher eine Art Wurzelweibchen. Klein ist sie, nicht größer als ein Brotlaib vom Bäcker. Wenn Du zehnmal Deine zehn Finger zählst, dann weißt Du auch, wie alt Walli ist. Und sie möchte noch viel, viel älter werden.
Walli ist ein knubbeliges, graues Wesen mit schwarzem, hochstehendem Kopfhaar, mit großen, spitzen Ohren und kleinen, listigen Augen. Ihre Nase ist dick und runzelig wie eine alte Kartoffel. Ihre Fü.e sind riesig und platschig, aber sie kann damit so schnell laufen, dass einige der Waldtiere sie mit ihren Augen gar nicht erfassen können.
Dort, wo der Wald am dichtesten ist, wo die Bäume besonders alt und knorrig sind, wohnt Walli in einer Erdhöhle, geschützt durch die kräftigen Wurzeln ihres Baumes. Rund um die Wurzelhöhle wuchern Gräser, Farne und stacheliges Geäst verschiedener Sträucher. Gut geschützt wohnt sie dort, und das ist auch nötig, denn viele der Waldbewohner mögen sie so gar nicht. Warum ist das so?
Wenn der Sommer sich dem Ende zuneigt, wenn die ersten Herbststürme das bunte Herbstlaub zauseln, wenn der Sturm die Äste knacken lässt und das Leben vieler Baumbewohner jetzt mehr und mehr am Boden stattfindet, dann gibt es dafür eine Erklärung: Wintervorräte müssen angeschafft werden! Besonders fleißig sammeln die Eichhörnchen und vergraben ihre Schätze hier und da im Boden. Bis zu 6.000 Verstecke können sie anlegen. Aber Eichhörnchen scheinen kein gutes Gedächtnis zu haben, denn oft finden sie ihre Nahrungsstellen nicht mehr wieder.
Genau das hat Walli Wurzelschwung beobachtet; sie kennt die Stellen und hat sie sich gut gemerkt!
In einer besonders dunklen Nacht, in der noch nicht einmal Mond und Sterne leuchten, macht sie sich auf den Weg. Geräusche erfüllen die Nacht: Klagende Rufe, Wispern, Rascheln, das Schlagen von Flügeln und das müde Gurren der Wildtauben. Im dunklen Geäst der Bäume leuchten Augen, glühende Augen der Nachtvögel. Uhu, Eule und Käuzchen haben Walli erspäht. Aber auch der Eichelhäher bemerkt Walli; er ist die Polizei des Waldes. Seinen warnenden Ruf – krschäääh – hören nun alle Waldbewohner. Krschäääh, krschäääh!
Der Igel, der Dachs mit seiner Familie, der Fuchs und auch der Baummarder horchen, blicken um sich, wissen nun, dass etwas passieren könnte. Und da sehen sie unten im raschelnden Herbstlaub die winzig-kleine Figur der diebischen Walli. Ein leises Rascheln hört man, wenn sie mit ihren Platschfüßen versucht, so leise wie möglich, durch das Laub zu gehen. Sie kichert leise in sich hinein, freut sich schon auf all die guten Früchte des Waldes, die sie sich nun auf ganz einfache Weise holen möchte.
Einen Sack aus geflochtenem Gras trägt sie auf ihrem krummen Rücken. Schon hat sie die erste Futterstelle entdeckt, und packt alles in den Sack: Bucheckern, Kastanien, Eicheln, so viel sie meint, tragen zu können. Dann, flinker, als ein Wiesel, flitzt sie zu ihrer Höhle. Kurz darauf erscheint sie wieder mit geleertem Sack und will mehr, mehr, mehr. Gerne auch Beeren, kleine Pilze, Nüsse.
Jetzt aber kommen die Eichhörnchen von allen Seiten angeflitzt! Der Eichelhäher hat gut gewarnt! Feuerrote, braune, schwarze und wütende Eichhörnchen, aber auch zwei Rehe, Igel Max und die ganze Hasenfamilie Löffelmann versammeln sich um Walli. Der Dachs Damian ist dabei und viele andere nachtaktive Tiere. „He, Walli, du bist so dreist, so unverschämt, so gemein, so, so, so …“ Den Tieren fällt nichts mehr ein vor lauter Ärger. Walli steht da und lacht. Lacht nur noch und hält sich den dicken Bauch, der immer gut gefüllt ist mit dem, was die anderen Tiere mühsam sammeln, und was sie einfach stibitzt.
Jetzt meldet sich der Eichelhäher zu Wort: „Walli, schämst du dich denn gar nicht? Alle hier im Wald versuchen, für die kalten Wintermonate vorzusorgen, fliegen hin und her, her und hin, buddeln, graben, sammeln, schleppen, und du? Du packst einfach alles für dich ein und trägst es zu deiner Höhle!“ „Das ist keine HÖHLE, das ist eine Wohnung!“, schreit Walli aufgebracht. „Und überhaupt: Was regt ihr euch eigentlich so künstlich auf? Ist das, was Mutter Natur uns gibt, nicht für alle da?“
„Ja, aber du klaust ja nicht nur unsere Vorräte, sondern auch unsere Arbeit!“, meldet sich das Eichhörnchen Naddel (dunkle Freundin von Rotschwanz-Franz) zu Wort. „Bemüh dich doch selbst!“ „Nee, ich sehe das doch gar nicht ein, immerhin bücke ich mich auch, schleppe auch und laufe hin und her, her und hin, und wenn ihr von K l a u e n sprecht, dann frage ich jetzt mal den Herrn Eichelhäher, wie ich das finden soll, dass er die Eier anderer Vögel aus den Nestern stiehlt!??“ So spricht Walli Wurzelschwung. S T I L L E. Peinliche Stille.
In die Stille hinein meldet sich die kluge Eule: „Ihr Lieben, lasst uns nicht streiten. Das Wichtigste hier im Wald ist doch, dass wir Frieden halten. Das bisschen, was Walli sich besorgt, ist doch so wenig, darauf können wir doch alle verzichten, oder?“ „Hm“, machen einige Tiere und machen fragende Gesichter. Nur Rotschwanz-Franz kann sich noch nicht beruhigen und schimpft laut: „Besorgen“ nennst du das? Sie klaut, und das tut man nicht! Das haben wir alle gelernt .Aber gut, ab heute sollten wir ihr die Genehmigung aussprechen, von unseren Futtervorräten zu nehmen, aber nur so viel, wie sie unbedingt zum Leben benötigt. Und das auch nur, weil sie so alt und krumm ist.“ Das Eichhörnchen Naddel aber mault leise vor sich hin: „Sie kann flitzen, sie kann sich bücken, sie kann schleppen ihren vollen Gras – Sack – wieso darf sie sich das nehmen, was wir mühselig gesammelt haben? Kann i c h nicht verstehen.“
Was denkt Ihr?
In diesem Moment kommt der Mond hinter den Tannen hervor und beleuchtet die ganze Gesellschaft. Freundlich schaut er, zufrieden ist er, denn Frieden ist das, was auch er liebt und was wir alle lieben sollten.
Ferdi Fuchs macht einen Vorschlag: „Deal, Walli!“ „Hä? Was ist das, was meinst du?“ Walli kratzt sich an ihrer dicken Kartoffelnase und guckt ziemlich blöde den klugen Ferdi an. „Wir machen einen Handel, Walli. Du legst ein Kräutergärtchen an, damit wir alle im Frühjahr frische und gesunde Kräuter genießen können, und du darfst dich dafür im Winter an unseren Futtersammelplätzen bedienen. Aber in Maßen, bitte!“ „Aber da müsste ich doch richtig arbeiten!“, stöhnt Walli. „Ja, so ist das Leben, Walli. Überleg es dir!“
Walli hat nachgedacht. Einen ganzen langen Herbst hat sie nachgedacht, hat sich in ihrer Höhle, die sie Wohnung nennt, vollgefressen mit den guten Sachen, die die anderen Tiere gesammelt haben, hat herumgetrödelt, an ihren Fingernägeln gekaut und die Langeweile bei sich wohnen lassen. Eine Spottdrossel sitzt im Geäst der Büsche vor Wallis Bau und lacht Walli aus, weil diese noch knubbeliger geworden ist vom vielen geklauten Essen.
Walli schämt sich, schämt sich auch, dass sie die anderen für sich arbeiten ließ. Nun beginnt sie wirklich damit, einen kleinen Kräutergarten anzulegen; sie weiß schon, wie man das macht und hat nun richtig viel zu tun.
Walli gehört nun zum Wald rund um Stadtwald und Rellinghausen, und alle mögen sie.
Wenn ihr im nächsten Jahr eine Stelle im Wald findet, aus der es würzig riecht, wo Schnittlauch, Kresse, Salbei sprießen, wo Schafgarbe, Brennnessel, Kamille, Bärlauch, Spitzwegerich, Löwenzahn und Vogelmiere blühen und duften, dann seid ihr richtig. Dort ist Wallis Kräutergärtchen. Besonders oft sind schon jetzt die Hasenkinder bei ihr zu Besuch; sie lieben den frischen Wald-Sauerklee.
Auch Wald-Anemonen werdet ihr finden, denn die braucht Walli für sich. Sie steckt sich die Blümchen in ihr strubbeliges Haar und findet sich schön.