Geschichte Spulk

von Sigrid Mundt

Spulk heißt er, und ist ein Sperling. Man nennt ihn auch Spatz. Spulk, der Spatz, mit seinen schwarzen Knopfaugen, seinen kastanienbraunen Deckfedern und dem hellgrauen Scheitel, mit seiner grauen Brust und dem schwarzen Latz ist so niedlich, wie alle Spatzen niedlich sind.

Spatzen mögen keinen Lärm. Hm. Aber selbst machen sie oft sehr viel Lärm, schilpen und schimpfen unaufhörlich, denn ihre Laute dienen auch der Kommunikation mit den Jungtieren; da ist schon manchmal Schimpfen angesagt. Aber auch vor Gefahr wird lautstark gewarnt.

Heißt es nicht: Da schimpft jemand wie ein Spatz? Oder, wie ein Rohrspatz?

Spulk macht gerne so sein eigenes Ding, macht nicht immer das, was die große Schar der Spatzen vorgibt. Zwanzig Spatzen sind unterwegs zwischen Rellinghausen und Stadtwald. Spulk wäre der Einundzwanzigste, aber der ist ja nicht dabei.

„Ach“, denkt er: „Ich war doch schon längere Zeit nicht mehr in meiner Kornkammer!“ Die Kornkammer – wie er es nennt – ist der Reiterhof in Stadtwald. Tip, tip, tip, so hüpft er auf seinen dünnen Beinchen in die Reithalle. Die Pferde scheinen ein gutes Gedächtnis zu haben, denn sie erinnern sich an den kleinen Gast und begrüßen ihn mit einem leisen, freundlichen Schnauben.

Körner gibt es hier genug und Spulk tut sich gütlich daran. Als sein Bäuchlein so voll ist, dass er wie eine kleine, flauschige Kugel aussieht, verabschiedet er sich mit einem ratternden Dankesruf und fliegt – mit einigen Päuschen – in die stillen Straßen von Stadtwald, von denen einige den Namen von Vögeln tragen. Da gibt es z. B. eine Amselstraße, eine Drosselstraße, eine Pirolstraße, einen Goldammerweg, einen Kuckucksrain, eine Lerchenstraße, auch eine Zeisigstraße, aber keine Sperlingstraße. „Wieso eigentlich nicht“, denkt Spulk. „Dann hätte ich eine richtige „Adresse“: Spulk Spatz, Sperling von der Sperlingstraße. Klingt irgendwie gut, ähnlich wie Schell zu Schellenberg.“

Da fällt ihm ein, dass er auch am Schloss Schellenberg seit langer Zeit nicht mehr nach dem Rechten gesehen hat. Er fliegt los und verspürt plötzlich großen Durst. Das kommt vom unmäßigen Körnerfressen, aber es ist auch ein heißer Sommertag, und am blauen Himmel ist noch kein Wölkchen zu sehen, welches Hoffnung auf ein paarTropfen bringen könnte.

Das wunderschöne Schloss Schellenberg, inmitten von durstigem Grün, liegt heute so still da. Die große Hitze macht Mensch und Tier müde; viele Menschen bleiben zuhause, viele Tiere suchen den Schatten, wo immer es geht. Auch Spulk ist müde. Im Geäst der Bäume, die zahlreich das Schloss umgeben, sucht er sich ein schattiges Plätzchen und schläft ein.

Er erwacht vom leisen Wiegen der Äste. „Ist da nicht ein kühlender Hauch?“ Er hebt die Flügel an und lässt diesen Hauch darunter herziehen. „Sehe ich nicht zwischen den Zweigen ein winziges Wölkchen, zart, aber sich zu einem zweiten Wölkchen gesellend? He, ihr Wolken, nur wenn ihr viele werdet, bringt das den ersehnten Regen! Gemeinschaft macht stark!“ „Warte es nur ab!“, lispelt das kleinste Wölkchen. “Warte es nur ab“, säuselt das größere Wölkchen.

Und es werden wirklich immer mehr Wolken, die da heranziehen, sich knuffen, schubsen, fetzen und die Farben wechseln.

Die kleinen Wölkchen müssen den größeren weichen. Dicke weiße Wolken türmen sich auf, plustern sich. Noch dickere graue Wolken drängeln sich vor die dicken Weißen. Und so wird es bald dunkler am Himmel, immer dunkler und immer voller. Die Wolken aber verändern ständig ihre Form und gaukeln sonderbare Gebilde vor: „Da ist ein großer, weißer Hase zu erkennen! Wie Relli! Da erkenne ich – huch – einen Adler! Jetzt eine Wolke, die aussieht wie ein Sahnegebirge. Sahne mit Blaubeeren. Also, dick genug seid ihr nun; wollt ihr nicht endlich euer Ding tun und es regnen lassen?“

Da kommt eine dicke, schwarzblaue Wolke angesegelt: „Warum bist du nicht bei deiner Spatzenschar!? Gemeinschaft macht stark! Das hast du selbst gesagt! Dann säßest du auch nicht so allein hier herum und einem kommenden Gewitter ausgesetzt!“, sagt die Wolke hämisch lachend und verändert ihre Gestalt zu einem dicken, grinsenden Walfisch. „Wir tun schon unsere Arbeit. Wir wissen schon, wann es loszugehen hat! Das geben uns die anderen Kräfte der Natur schon vor! Also warte es ab!“

Der Wind wird stärker. Die schlappen Blätter der Bäume möchten sich in diesem Wind bewegen, aber sie haben keine Kraft mehr.

„Seht ihr nicht, wie die Blumen ihre Köpfe hängen lassen, wie die Blätter wie alte Putzlappen schlapp herunterhängen, wie das Gras gelb und trocken ist? Seht ihr nicht, wie ein armer Spulk an Durst leidet? Jetzt schüttet euch mal endlich aus!“

Die Wolken werden dunkler und dunkler. Ein dumpfes Grollen, und dann – ein erster Blitz! Spulk sucht sich Schutz in einer Mauernische des Schlosses. „Ihr da oben, ihr grummelt herum, ihr blitzt mir in die Augen, aber die ersehnten Tropfen kommen nicht, „mault er. „Ich habe Durst, ich habe Durst, bitte nur einen Tropfen. Oder zwei?“

Plötzlich ein greller Blitz, das ganze Schloss in grellblaues Licht tauchend, zischend, flackernd und mit ohrenbetäubendem Donnerschlag das Schloss erzittern lassend! Und dann folgt knisternd Blitz auf Blitz, Donner auf Donner. Es wird blitzhell, wolkendunkel. Die Wolken entleeren wahre Sturzbäche auf das ausgetrocknete Land.

Durch ein neben Spulk entlanglaufendes Regenrohr hört Spulk das Wasser gurgeln. (Ist er nun ein Rohrspatz?) Das Wasser so nah, aber nichts zu trinken! Er würde schon gerne schimpfen wie ein Rohrspatz, aber Angst erfasst ihn. Er möchte seine große Spatzenschar rufen, aber er bleibt stumm, kann nicht rufen. Es würde ihn bei diesem Unwetter auch keiner hören.

Wie gelähmt klemmt er in seiner Mauernische. Eine seiner Zehen hat sich in einem Steinspalt verklemmt. Er zieht und zerrt; au, au, au, das tut weh! Spulk versucht mit den Flügeln zu schlagen und hofft so, sich befreien zu können. Aber es ist zu eng; er kann sich kaum bewegen. Trotz aller Schmerzen entsinnt er sich, dass er doch zwei Beine, zwei Krallenfüße hat. Er versucht, mit der einen Kralle der anderen Zehe seiner anderen Kralle zu helfen. Vergeblich!

Draußen tobt ein Gewitter, wie er es in seinem kurzen Vogelleben noch nie erlebt hat. Sein Herzchen klopft wie ein kleiner Hammer.“ Was soll ich machen? Ach, wäre ich doch bei meinem Schwarm geblieben!
Wer weiß, wo die alle sind. –

Ach, ich spatzengrauer Spatzenblödmann, da fällt mir doch etwas ein, nämlich, dass ich das beste Werkzeug, um mich zu befreien, direkt bei mir habe: meinen kräftigen, harten und spitzen Schnabel!“ Mit dem hackt Spulk sich jetzt frei. Frei, wie es sich ein Vogel wünscht.

Als das Gewitter sich verzogen hat, die Wolkenberge Platz machen für kleine Stückchen blauen Himmels, wagt er einen Abstecher zu seinem Baum, sperrt das Schnäbelchen auf und trinkt, trinkt, trinkt, was von den Blättern direkt in seinen Schnabel tropft.

Er hört einen Vogellaut: „ich – ich – ich – hab – dich – lieb, trütt, trütt“ Es ist das Lied der Goldammer. „Wieso bist du hier, wieso hast du nicht versucht, dich in Sicherheit zu bringen?“ „Ich hatte im dichten Gestrüpp noch ein Nest vom Frühjahr. Dort hinein konnte ich mich gut verkriechen“, antwortet die Goldammer, die leider auch nicht bei ihrem Trupp geblieben ist.

Spulk bereut es, nicht bei seiner Schar geblieben zu sein. Spatzen leben nun mal in großen Trupps, und das hat, wie man sieht, für kleine Spatzen große Vorteile. Auch die Goldammern leben in großen Trupps und schließen sich gerne den Spatzen an. Und so schließt sich die Goldammer jetzt auch Spulk an, und beide suchen gemeinsam nach ihren Freunden, ihren Familien.

Alles hat einen Sinn und seine Ordnung, und wenn man sich daran hält, geht alles einfacher. Das hat Spulk gelernt.

Die Erde atmet auf. Die Tiere werden lustig und lebhaft. Das triefnasse Schloss Schellenberg erglänzt unter den Sonnenstrahlen, die jetzt hinter den letzten Wolken hervorbrechen. Die Blumen zeigen wieder ihre Gesichter, und die Bäume des Schellenberger Waldes platzen fast vor erfrischtem Grün.

Die Vögel beginnen ihre ganz verschiedenen Lieder zu singen, zu zwitschern, zu pfeifen, zu tirilieren. Spulk aber befindet sich mit seinem neuen Freund auf dem Rückflug. Zum Schillerbrunnen fliegen sie, und siehe da – dort plantschen tatsächlich die ersten seiner Freunde, seiner Familie. Sofort, als sie ihn erblicken, geht schon das Gezeter wieder los, das Geschimpfe, das Schilpen.

Vorwürfe werden es wohl sein!?

Dort trifft er auf viele Tiere, die er kennt. Sein neuer Freund, die Goldammer, hüpft um zwei Eichhörnchen herum, die dort ihr Zuhause haben. Spulk ist glücklich. Ein herrlicher Sommernachmittag kann beginnen.

Ein sanfter Geruch nach Stroh und nach frischem Heu weht herüber vom Reiterhof zum Schillerbrunnen. Etwas entfernt hört man den Kuckuck rufen.

Suche Spulks Versteck im Mauerloch des Schlosses!